Arseni Roginski: Eine Autorität ohne autoritäres Gehabe

Arseni Roginski, Mai 2013
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Arseni Roginski, Mai 2013

Arseni verkörpert wie kaum ein anderer die Vergangenheit und Gegenwart der russischen Bürgerbewegung. Wir wünschen Arseni Roginski zum Siebzigsten alles Gute, Gesundheit, Zuversicht und noch viele Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit!

Wie soll man Arseni am besten beschreiben – als politischen Intellektuellen, ausgewiesenen Historiker, passionierten Menschenrechtler, lebenslangen Dissidenten? Ja, alles das – aber vor allem als eine Seele von Mensch. Arseni hat eine Ausstrahlung, die Menschen in seinen Bann zieht – eine Mischung aus Wärme und geistiger Energie, die ganz ohne eitle Selbstinszenierung auskommt. In der Regel hält er sich lange zurück, hört zu und beobachtet. Aber wenn er spricht, merkt man auf: besonnen, aber eindringlich, freundlich, aber entschieden, mit einem weiten Horizont an Wissen und Erfahrung. Er ist eine Autorität ohne autoritäres Gehabe. Wenn ihn ein Thema bewegt, hält es ihn nicht mehr auf dem Stuhl – dann treibt es ihn im wörtlichen Sinne um.  

Arseni verkörpert wie kaum ein anderer die Vergangenheit und Gegenwart der russischen Bürgerbewegung. Wenn man im alten Memorial-Gebäude die Eingangstreppe hochging, hingen an der Wand die Fotos von Sacharow, Daniel, Sinjawski, Kowaljow und anderen, die als kleine, scheinbar hoffnungslos isolierte Minderheit auf ihre Freiheit zum Widerspruch bestanden. Auf uns wirkte das wie eine Ahnengalerie Memorials. Es gibt eine schöne Aufnahme, die Arseni mit dem Leningrader Rechtsanwalt Juri Schmidt und anderen Freunden zeigt. Sie sitzen um einen Tisch, der mit Zigaretten und Flaschen übersät ist – für uns der Inbegriff der sowjetischen Wohnküchen-Dissidenz.  Bereits Mitte der siebziger Jahre veröffentlichte er in der Samisdat-Literatur, Anfang der 80er überstand er vier Jahre Lagerhaft als politischer Häftling. Davon macht er so wenig Aufhebens wie vom Schicksal seines Vaters, eines Ingenieurs, der wie so viele seiner Zeitgenossen in den GULAG geschickt wurde. Man kann vermuten, dass diese biographischen Erfahrungen Arsenis Sensibilität für Willkür und Gewalt geschärft haben. Die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus wurde zu seinem Lebensthema. Sie ist ein Schlüssel für das Verständnis der russischen Gegenwart. 

In einem großen Vortrag vom Dezember 2008  beschreibt er den Terror als Wesensmerkmal dieses Systems. Er zielte auf die Formierung der Gesellschaft von oben durch Zerstörung aller horizontalen Verbindungen, also durch Vernichtung der Zivilgesellschaft im strikten Sinn. Diese Grunderfahrung von entfesselter Gewalt, Angst, Misstrauen und Atomisierung ist bis heute im kollektiven Gedächtnis Russlands präsent.  Vom ersten Weltkrieg bis zu Stalins Tod und noch darüber hinaus hat das Land fast ohne Atempause exzessive Gewalt von innen und außen erlebt. Erst die Aufarbeitung dieser traumatischen Erfahrungen öffnet den Weg für eine Zukunft jenseits von imperialen Verlustschmerzen und revisionistischen Großmachtträumen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir, die im Protest gegen den Westen politisiert wurden, auf dem Umweg über die russischen Bürgerrechtler den Rechtsstaat schätzen lernten.

Man kann die geschichtspolitische Bedeutung der Arbeit von Memorial kaum überschätzen. Es geht um Spurensicherung, Dokumentation, Aufbereitung von verdrängten Erfahrungen, die den offiziellen Archiven mühsam abgerungen werden mussten. Die wohl größte Leistung liegt in der akribischen Dokumentation der Namen der Erschossenen, mit denen den Opfern der Großen Säuberung wieder ein Gesicht gegeben wurde. Gleichzeitig ist Memorial eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um die Verteidigung der Menschenrechte hier und heute geht. Es ist tragisch, dass fast alle unsere Freunde und Partner in Russland inzwischen wieder als „ausländische Agenten“ abgestempelt und an den Rand der Illegalität gedrückt werden.  Aber Furcht und Resignation sind Arsenis Sache nicht. Dafür hat er zu viel durchgestanden. Und waren nicht der Fall der Mauer und die weitgehend unblutige Auflösung des sowjetischen Imperiums in den magischen Jahren 1989-1991 ein Beleg für die überraschenden Wendungen der Geschichte und die Unmöglichkeit, sie mit Gewalt aufzuhalten? Wir können die Zukunft nicht voraussagen, sondern nur hier und jetzt das tun, was wir für richtig und notwendig halten – das kann man von den sowjetischen Dissidenten der frühen Jahre lernen.

Noch etwas hat Arseni aus dieser Zeit bewahrt, das wir im Laufe der Jahre schätzen lernten: die Bedeutung persönlicher Verbindungen, die auf Freundschaft und Vertrauen beruhen. Man muss sich die Zeit nehmen, miteinander zu reden, immer wieder, um den anderen besser zu verstehen und die gegenseitige Sicht der Dinge abzugleichen. Mit der Zeit entwickelt sich ein gemeinsames Verständnis, das keiner großen Worte mehr Bedarf. Das ist ein kostbares Geschenk. Und weil Arseni zwar ein eigenwilliger Mensch, aber kein Einzelgänger ist, haben wir durch ihn eine ganze Reihe wunderbarer Menschen aus dem Umkreis von Memorial kennengelernt. Auch dafür sind wir dankbar.

Was zeichnet Arseni noch aus? Seine Herzlichkeit, sein verborgener Charme, seine augenzwinkernde, freundliche Ironie, seine Bescheidenheit und seine nie erlöschende intellektuelle Neugier. Mit halbgaren Erklärungen gibt er sich nicht zufrieden. Man muss sich schon Mühe geben, um seinen Maßstäben gerecht zu werden. Das spornt an.

Es dürfte kaum einen russischen Intellektuellen geben, der in den letzten 15 Jahren so viele Veranstaltungen in Deutschland bestritten und seine Sicht der Dinge erläutert hat – nüchtern, ungeschminkt, ohne aufgeregten Alarmismus. Auch dafür wird er weiterhin dringend gebraucht. In der Böll-Stiftung ist er Stammgast. Memorial ist unser engster Partner in Russland, viele Projekte tragen unseren gemeinsamen Stempel.

Wir wünschen Dir also alles Gute, lieber Arseni, Gesundheit, Zuversicht und noch viele Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit!

Marieluise & Ralf